Gesund aufwachsen in einer digitalen Welt

peb-Kongress diskutierte Chancen und Herausforderungen

Ob Tablet, Smartphone, Notebook oder Spielekonsole – Bildschirmmedien durchdringen den kindlichen Alltag in einer rasanten Geschwindigkeit und prägen damit das Aufwachsen. Hinzu kommen weitere, neue Technologien, die keine Zukunftsmusik mehr sind: Die heute Geborenen gehören zur ersten Generation, die mit Sprachassistenten und Künstlicher Intelligenz aufwachsen.

Potenziale und Risiken für ein gesundes Aufwachsen

Digitale Medien bilden dabei ein enormes Potenzial für Vernetzung und Kommunikation und schaffen insbesondere im Bildungsbereich neue Möglichkeiten der Teilhabe und Förderung. Aber ein kindlicher Alltag, der immer früher durch Medien geprägt ist, kann auch deutliche Risiken mit sich bringen. Bewegungsmangel, Konzentrationsstörungen, psychische Leiden – die ständige Verfügbarkeit medialer Angebote sowie die zunehmende Unschärfe zwischen analogem und digitalen Leben haben Folgen für die Gesundheit. Daher ist fachliche Vernetzung und Interdisziplinarität gefragt, um Kinder auf der einen Seite vor Gefahren zu schützen und auf der anderen Seite das Potenzial des digitalen Zeitalters für alle Aspekte eines gesunden Aufwachsens zu nutzen.

Vor diesem Hintergrund hatte die Plattform Ernährung und Bewegung (peb) ausgewiesene Experten aus den Bereichen Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft beim peb-Kongress „Gesund aufwachsen in einer digitalen Welt“ am 20. Februar 2019 in Berlin zusammengebracht, um über Qualitätssicherung, Handlungsempfehlungen für Eltern und Pädagogen sowie notwendige Bündnisse zu sprechen. Unterstützung erhielt peb vom Spitzenverband der deutschen Lebensmittelwirtschaft BLL als Kooperationspartner der Veranstaltung.

Ganzheitliche Betrachtung notwendig

In ihrer Begrüßungsrede resümierte die peb-Vorstandsvorsitzende Prof. Dr. Ulrike Ungerer-Röhrich: „Die Digitalisierung verändert unsere Welt in rasanter Geschwindigkeit – und damit auch den Alltag und die Bedingungen für gesundes Aufwachsen von Kindern. Mit unserem heutigen Kongress ist es uns gelungen, mit zahlreichen Fachleuten aus allen relevanten Gebieten die Chancen und Herausforderungen einer digitalisierten Kindheit zu diskutieren und so den Dialog zu fördern."

©peb/ Béla Biank
Prof. Dr. Ulrike Ungerer-Röhrich, Vorstandsvorsitzende von peb, begrüßte die Teilnehmenden.

Der BLL plädierte für eine ganzheitliche Betrachtung des Themas. BLL-Präsident Stephan Nießner erläuterte: „Nicht nur die Ernährung, nicht nur die Bewegung, sondern das gesamte Umfeld eines Kindes beeinflusst die Entwicklung körperlicher, aber auch kognitiver Fähigkeiten. Wir müssen deshalb einen gesunden Lebensstil digital denken.“ Mit Blick auf den Bereich Lebensmittel und Ernährung fügte er hinzu: „Unsere Lebensmittelvielfalt ist zum Beispiel die Basis für eine gesunde Ernährung. Life-Hacks zum Kochen mit Rezeptideen, Self-Tracking-Apps und Bewegungsspiele können Eltern und Kinder in ihrer Lebensrealität abholen. Wenn wir, alle relevanten Akteure, es schaffen, die unterschiedlichen Fachkompetenzen aus den Bereichen Ernährung, Bewegung, Bildung, Politik zu bündeln, uns flächendeckend zu vernetzen und auszutauschen und gemeinsam lösungsorientierte Ideen und Konzepte zu erarbeiten, dann sind wir für die Ansprüche und Bedürfnisse der Kinder von heute und morgen gut aufgestellt, um sie in ihrem gesunden Aufwachsen zu begleiten."

Zukunftsmusik? Virtuelle Welten

Trendforscher Professor Peter Wippermann machte in seiner Keynote zum Einstieg in den Tag deutlich, dass Kinder heutzutage von Geburt an mit Digitaltechnologien konfrontiert sind und sich diese Entwicklung durch immer ausgereiftere Technologien verschärfe: „In 20 Jahren werden die Kinder vergessen, dass sie vor dem Bildschirm sitzen. Die Technologien der Augmented- und Virtual-Reality sowie der Hologramme werden das Eintauchen in die Datenwelt ermöglichen.“ Nach den Phasen von Information, Kommunikation und Partizipation beginnt die Ära der Immersion, so Wippermann. Die virtuelle Welt werde die reale Wirklichkeit für Eltern und Kinder verändern.“

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Prof. Wippermann sprach in seiner Keynote über die Entwicklung des digitalisierten Alltags.

Bewegungsmangel und psychische Auffälligkeiten

Welche Risiken diese Entwicklung für die Gesundheit von Kindern haben kann, machte Kinder- und Jugendarzt Dr. Uwe Büsching, BVKJ-Vorstandsmitglied, deutlich. Bewegungsmangel, Konzentrationsstörungen und psychische Auffälligkeiten sind für den Projektleiter der BLIKK-Medien-Studie die wichtigsten Risiken der übermäßigen Nutzung digitaler Bildschirmmedien: „Die Zeit für den gestiegenen Konsum digitaler Bildschirmmedien in der Freizeit fehlt im realen Leben.“ Er plädierte dafür, dem realen Leben mehr Vorfahrt zu gewähren: „Kicken statt Klicken, Biken statt Liken, Paddeln statt Daddeln“ hieß es von Dr. Büsching. Mit Blick auf die Forschung gab er an, dass hier noch mehr Evidenz nötig sei, auch um Folgen besser abschätzen und bewerten zu können, wann und wo eingegriffen werden müsse. Insgesamt müssten mehr Forschungsgelder bereitgestellt werden, so seine Forderung.

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Dr. Uwe Büsching machte in seinem Vortrag auf die Risiken der übermäßigen Bildschirmmediennutzung aufmerksam.

Was ist eigentlich die digitale Welt?

Diplom-Pädagoge Jöran Muuß-Merholz sah diese Kausalitäten etwas anders. Für ihn krempeln die digitalen Medien die Eigenschaften eines Menschen nicht um, sondern sie verstärken vorhandene Charaktereigenschaften und Vorlieben: „Digitale Medien sind mächtige Verstärker – allerdings nicht per se in eine bestimmte Richtung. Wer gerne lahm auf dem Sofa rumhängt, der kann mit digitalen Medien noch besser lahm auf dem Sofa rumhängen. Wer gerne raus in die Welt geht und Neues entdecken will, der kann mit digitalen Medien noch besser raus in die Welt gehen und Neues entdecken."

 Digitalisierung dürfe deshalb nicht isoliert als eigenständiges Handlungsfeld betrachtet werden. Da sie ein Teil von allem sei, müsse sie daher auch von allen mitgedacht werden. Wenn über die Digitalisierung des Alltags mit Schlagwörtern oder Kampfbegriffen wie „digitale Revolution“ oder „vierte Kulturtechnik“ gesprochen werde, so sei damit „unterschwellig oft die Hoffnung verbunden, dass die meisten von uns weitermachen können wie bisher, während sich einige spezialisierte Akteure um ein vermeintliches Spezialfeld Digitalisierung kümmern sollen", warnte Muuß-Merholz. Eine seiner Thesen war es, dass sich die Gesellschaft insgesamt hinsichtlich der Digitalisierung in der Pubertät befände. Mit Blick auf Kinder und Jugendliche sei es wichtig, die Medien miteinander zu nutzen und das Thema Digitalisierung gemeinsam zu bewältigen.

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In seiner Keynote beschrieb Jöran Muuß-Merholz die Digitalisierung aus unterschiedlichen Perspektiven.

Wer sichert die Qualität der Angebote?

Im zweiten Teil des Kongresses ging es deshalb vor allem um die praktische Seite und das besondere Potenzial der Digitalisierung. Die Referenten waren sich einig, dass man nicht in eine Haltung kritischer Distanz zur Digitalisierung verfallen sollte, sondern die Chancen nutzt. Die Qualitätssicherung von Ernährungs- oder Gesundheitsthemen, sowohl auf fachlicher als auch auf didaktischer Ebene, sei jedoch nicht klar geregelt. Wer bewertet beispielsweise Fitness-Influencer oder Ernährungs-Apps, um sicherzustellen, dass die richtigen – gesundheitsfördernden – Botschaften an Kinder und Jugendliche gesendet werden?

Da nun potenziell jeder zum Sender von Botschaften werden und große Reichweiten erreichen könne, erfordere dies die verstärkte Aufmerksamkeit der Eltern und auch Lehrer als Mittler. Dr. Iren Schulz, Mediencoach von der Initiative SCHAU HIN!, forderte daher: „Damit Kinder die Chancen digitaler Medien nutzen und gesundheitliche Risiken vermieden werden, braucht es neben klaren inhaltlichen und zeitlichen Regeln für die Jüngsten vor allem Offenheit und Interesse der Eltern an dem, was Kinder bewegt und begeistert.“

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Dr. Regina Vetters, Isabell Rausch-Jarolimek und Dr. Iren Schulz diskutierten über klare Qualitätskriterien für die Nutzung von Online-Inhalten.

Klare Regeln und Empfehlungen notwendig

Einigkeit aller Diskutanten herrschte darüber, dass man einerseits klare Qualitätskriterien für Online-Inhalte benötige, andererseits aber auch Regeln für die Nutzung dieser durch Kinder und Jugendliche. Gleichzeitig brauchen Eltern und Pädagogen Handlungshilfen, um diese Regeln im Familien- und Schulalltag umzusetzen. Dabei gehe es nicht nur um die Bestimmung von „Screenzeiten“, also die Dauer der Bildschirmnutzung, sondern darum, aufmerksam und begleitend Kindern und Jugendlichen zur Seite zu stehen. Hierfür bedarf es der Zusammenarbeit und Bündelung interdisziplinärer Fachkompetenz, um dafür Sorge zu tragen, dass digitale Angebote mit gesundheitsrelevantem Charakter von unabhängigen Stellen geprüft werden bzw. hochwertige Angebote von Fachexperten entwickelt und breitenwirksam zur Verfügung gestellt werden.

Best-Practice-Beispiele auf dem Interaktiven Markt

Verschiedene Best-Practice-Beispiele, die Digitalisierung mit Bewegungs- und Gesundheitsförderung und Ernährungsbildung verbinden, gab es auf dem Kongress in einem interaktiven Markt zu erleben. Ob selbst programmierbare Roboter, 3-D-Drucker, Bewegungsspiele mit der Virtual-Reality-Brille oder zahlreiche Fachinformationen zum gesunden Umgang mit Medien - auf dem Interaktiven Markt konnten die Kongress-Besucher hautnah erleben, was Digitales Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen heute und morgen prägt. Verschiedene Initiativen wie „MediaSmart“ oder peb-Mitglieder wie das „Frankfurter Zentrum für Essstörungen“ stellten ihre Informationsangebote vor.

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Auf dem Interaktiven Markt konnten sich die Teilnehmenden über Best-Practice-Beispiele informieren.