"Es gibt keinen Impfstoff gegen Übergewicht"

Motivationsgespräch mit Gehard Koch: Im Interview mit peblinline erklärt der Vorstandsvorsitzende der Plattform Ernährung und Bewegung e. V. (peb), warum Prävention für die Übergewichtsentwicklung von Kindern und Jugendlichen das A und O ist. Der Kinderarzt sagt: "Die wirksamste Maßnahme ist, gar nicht erst übergewichtig zu werden." Welche Schlüsselrolle gerade Kinder- und Jugendärztinnen und -Ärzten bei diesem Ziel zukommt, diskutiert Koch auch am 14.9. beim digitalen peb-Talk. Hier registrieren.

 

Aus kinder- und jugendmedizinischer Sicht: Wie wichtig sind ausgewogene Ernährung und Bewegung für ein gesundes Leben ?

Es gibt keinen Impfstoff gegen Übergewicht. Die wirksamste Maßnahme ist, gar nicht erst übergewichtig zu werden. Deshalb setzen wir auf Prävention! Regelmäßige motorische Bewegung und eine ausgewogene, auf den aktuellen Bedarf des Kindes angepasste Ernährung sind Voraussetzung dafür, Kindern und Jugendlichen ein gesundes Aufwachsen zu ermöglichen. Sie werden dadurch in die Lage versetzt, ihre anstehenden Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Neben günstigen körperlichen Effekten führt dies auch zu einem gesunden Selbstvertrauen und hat damit eine nicht zu unterschätzende positive psychologische Wirkung. Denn je früher im Leben Kinder positive Erfahrungen machen, umso nachhaltiger wirken sie gesundheitlich bis ins hohe Alter nach. Getreu dem Sprichwort: „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.“ Deswegen ist Prävention so wichtig.

Welches sind die größten Risiken durch mangelhafte Ernährung und Bewegung?

Es ist ein Muster von Erkrankungen, die mit dem Begriff „metabolisches Syndrom“ charakterisiert werden. Es besteht aus Übergewicht, Adipositas und den damit verbundenen Folgeerkrankungen wie unter anderem Diabetes, Bluthochdruck, Gelenkschäden, aber auch Schlafstörungen und psychologische Folgen durch Hänseleien und Mobbing. Besorgniserregend ist dabei die Häufigkeit und Zunahme von Übergewicht und Adipositas in den vergangenen Jahrzehnten. Betrug die Prävalenz 1975 laut WHO in der Altersgruppe der 5 bis19-Jährigen noch vier Prozent, betraf es 2016 schon fast jedes fünfte Kind. Dabei nimmt die Wahrscheinlichkeit, an Adipositas zu erkranken, mit dem Alter zu: Während sie im Vorschulalter noch im Normbereich liegt, verdoppelt sie sich im Grundschulalter und verdreifacht sich im Alter von 14 bis 17 Jahren.

Im höheren Erwachsenenalter sind dann bis zu 67 Prozent der Männer und mehr als die Hälfte der Frauen übergewichtig, davon fast jede und jeder vierte Betroffene adipös. Folgeerkrankungen bereits im Kinder- und Jugendalter sind keine Seltenheit mehr. Und dieser Trend setzt sich ungebremst fort, im höheren Erwachsenenalter drohen den Betroffenen chronische Leiden, eine eingeschränkte Lebensqualität wie eine verkürzte Lebensdauer und nicht zuletzt dem Gesundheitssystem hohe Krankheitskosten.

Was können Kinder- und Jugendärzte tun, um Kinder und Jugendliche aus benachteiligten Verhältnissen zu unterstützen?

Kinderärztinnen und -Ärzte haben bei der Versorgung von übergewichtigen und von Übergewicht bedrohten Kindern eine Schlüsselrolle inne. Sie haben den Vorzug, nahezu alle Kinder– auch aus den Risikogruppen – zu den Vorsorgeuntersuchungen zu sehen. Und dies in einem Alter, in dem die Gewichtsentwicklung noch weitgehend normal verläuft. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass die Ärztinnen und Ärzte über einen vertrauensvollen Zugang zu den Kindern und ihren Familien verfügen. Denn als Ansprechpartner der Familie kennen sie die Vorgeschichte, die Untersuchungsbefunde sowie die soziale Risikostruktur und die körperliche Entwicklung eines jeden Kindes – wie auch von seinen Eltern und Geschwistern. Mit diesen Informationen können sie zeitnah Empfehlungen zur Einleitung sowohl präventiver als auch therapeutischer Maßnahmen geben – und zwar zu einem entscheidenden, sehr frühen Zeitpunkt, bevor Symptome unumkehrbar werden.

Hilfreich wären Helferteams vor Ort, die unverzüglich und zielgenau entsprechende Interventionsmaßnahmen auf kommunaler Ebene umsetzen helfen würden. Ein Netzwerk ist hier erforderlich, das sich auch um gesunde Lebensverhältnisse in der Umgebung der betroffenen Kinder und Familien kümmern kann. Kinderärztinnen und -Ärzten sowie behördliche Einrichtungen wie beispielsweise das Gesundheitsamt, wären idealerweise aktive Mitglieder eines solchen Netzwerkes.

Zur Person:

Gerhard Koch ist Vorstandsvorsitzender der Plattform Ernährung und Bewegung e.V

Zuvor war Koch Chefarzt der Kinderklinik im Allgemeinen Krankenhaus Hagen, die er mit spezialisierten Angeboten wie einer Diabetesambulanz, einem Schlaflabor und einer ernährungsmedizinischen Schwerpunktpraxis ausbaute.

Gehard Koch ist Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin. Er engagiert sich für ein gesundes Aufwachsen von Kindern, insbesondere durch Bewegung als festem Bestandteil.