peb-Kongress 2021

Wie kann Übergewichtsprävention für Kinder und Jugendliche mit niedrigem sozio-ökonomischen Status besser gelingen?

In Deutschland sind 15,4 Prozent der Kinder- und Jugendlichen übergewichtig und insgesamt 5,9 Prozent adipös. Die Daten aus der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland“ (KiGGS) zeigen, dass es innerhalb der ersten und der zweiten Welle keinen Anstieg gegeben hat. 


Darüber hinaus bestätigen die Schuleingangsuntersuchungen den Trend stagnierender oder sogar leicht rückläufiger Prävalenzzahlen für Übergewicht bzw. Adipositas bei Einschulkindern. Das Risiko für Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter ist in Familien mit geringem sozioökonomischen Status am höchsten. Dies wird durch die Daten aus der KiGGS-Erhebung des Robert-Koch-Instituts (RKI) der Welle 2 erneut bestätigt. 

Deshalb haben die Plattform Ernährung und Bewegung e. V. (peb) und der Lebensmittelverband Deutschland am 24. Februar einen Online-Kongress veranstaltet, bei welchem vor allem die Prävention von Übergewicht von Kindern und Jugendlichen mit niedrigem sozio-ökonomischen Status im Mittelpunkt stand. Denn hier stoßen Präventionsmaßnahmen auf Barrieren, weil die Angebote wenig genutzt werden. 


Es entsteht ein sogenanntes „Präventionsdilemma“. Das heißt: Auf Aufklärung und Verhaltensänderung Einzelner gerichtete Maßnahmen erreichen vor allem bereits motivierte Kinder und Familien. Gerade die Kinder und Jugendlichen mit dem höchsten Unterstützungsbedarf profitieren zu wenig. 


Präventive Maßnahmen entfalten jedoch eine umso größere Wirkung, je früher sie ansetzen – dafür sprechen die Erkenntnisse im Feld der perinatalen Programmierung und der Sozialforschung. Die Präventionserfolge bei Kindern und Jugendlichen aus der Mittel- und Oberschicht bei gleichzeitigen Misserfolgen in den schlechter erreichten Gruppen aus der Schicht der sozial Benachteiligten vergrößern daher die gesundheitliche Kluft zwischen den unterschiedlichen sozio-ökonomischen Statusgruppen. Daher bedarf es einer grundsätzlichen Veränderung der Benachteiligungsstrukturen sowie der Entwicklung und Erprobung neuer und adäquater Kommunikationsinstrumente und -kanäle.

Welche Rolle spielen soziale Rahmenbedingungen für die Entwicklung von Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen?

Das sagten die Expert:innen: Julia Loss, Robert-Koch-Institut

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Julika Loss vom Robert Koch-Institut ordnete zu Beginn des Kongresses die KiGGS-Daten ein und konstatierte, dass sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche deutlich häufiger von Übergewicht und Adipositas betroffen seien (21 Prozent, davon fast die Hälfte Adipöse). Dabei bestehen starke Unterschiede hinsichtlich des sozio-ökonomischen Status, zum Beispiel abhängig von Ausbildung, Beruf und Einkommen. Es gebe etwa drei Millionen Kinder mit Armutsrisiko. In der Regel bestehe ein Missverhältnis zwischen Energieaufnahme über die Ernährung und den Energieverbrauch aufgrund häufigen Bewegungsmangels. Die Mechanismen seien bisher nicht vollständig geklärt. Verschiedene Faktoren, wie beispielsweise:

  • die Familiensituation (geringe Finanzen, Zeitmangel)
  • beschränkte Wohnverhältnisse
  • und das Wohnumfeld

sind hier zu nennen. Aufklärung alleine werde nicht viel verändern, so lange die sozialen Rahmenbedingungen unverändert bleiben. Wichtig, so Loss, sei die Partizipation der Betroffenen, da es unterschiedliche Bedürfnisse gebe und die Gruppe der sozial Benachteiligten nicht homogen sei.

Georg Cremer, ehemaliger Generalsekretär des Deutschen Caritasverband e. V.

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Georg Cremer betonte, dass die Eigenverantwortung des Einzelnen wichtig sei. Hier müsse Hilfe angeboten werden, zum Beispiel müsse über das Lebensmittelangebot aufgeklärt werden. Für ihn sei gesunde Ernährung fast wichtiger als Bewegung. Das Missverhältnis zwischen sozialer Lage und Gesundheit müsse durch Kooperation verschiedener Akteur:innen aus Ernährungspolitik, Ernährungswirtschaft und Bildungsbereich beseitigt werden. Er forderte eine Datenanalyse bei Schuleingangsuntersuchungen und den Abbau von Kooperationshürden.

Heide Möller-Slawinski, SINUS Markt- und Sozialforschung

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Heide Möller Slawinski betonte, dass es nicht die Benachteiligten gebe und daher auch nicht das eine Instrument, das für alle gelte. Vielmehr seien, bezogen auf die unterschiedlichen Bedürfnisse, unterschiedliche Ansprachen notwendig. Zum Beispiel gebe es in der Gruppe der Kinder und Jugendlichen aus bildungsfernen Schichten solche, für die Lebensmittel als Seelentröster fungieren, während andere Wert auf einen perfekt „getunten“ Körper legen und sich entsprechend aktiv bewegen. Es sei wichtig, mit den Betroffenen selbst zu sprechen, nicht über sie (Partizipation), keine Defizitspiegelung zu machen, sie wertzuschätzen und ressourcenorientiert Präventionsmaßnahmen zu entwickeln.

Best Practice: Was leisten erfolgreiche Projekte? Wo liegen ihre Grenzen?

Internetangebot „Übergewicht vorbeugen“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)

Michaela Goecke stellte das Angebot www.uebergewicht-vorbeugen.de vor. Damit bietet die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) Eltern und Fachkräften wissenschaftlich fundierte Informationen, wie sie den Nachwuchs unterstützen können, gesunde Verhaltensweisen zu erlernen und diese zu Gewohnheiten werden zu lassen. Zu den Bereichen:

  • „Ernährung und Trinken“,
  • „Bewegung und Sport“,
  • „Medien und Digitales“,
  • „Entspannung und Ruhepausen“

gibt es Broschüren für Eltern und Multiplikator:innen mit Informationen und Anregungen in einfacher Sprache. Eine Darstellung in den sozialen Medien sei in Vorbereitung. Die Evaluierung der Maßnahmen erfolge durch RE-AIM. Goecke unterstrich, dass eine Änderung im Gesundheitsverhalten kontinuierliche und langfristige Maßnahmen erfordert, bis sich Erfolge einstellen. 

NRW-Modellprojekt „Soziale Prävention“

Burkhard Rodeck stellte das NRW-Modellprojekt „Soziale Prävention“ vor und zeigte dabei zunächst Risikofaktoren für ein gesundes Aufwachsen auf, zum Beispiel:

  •  sozio-ökonomischer Status,
  • Alkohol-/Drogenmissbrauch sowie
  • psychische Erkrankungen.

Bei dem Modellprojekt wurde an drei Standorten in Nordrhein-Westfalen boten Mitarbeiter:innen der Jugendhilfe hierzu regelmäßige Sprechzeiten in den Räumen der Kinder- und Jugendarztpraxis an, um Familien beraten zu können. Sie koordinierten für diese Familien Beratungsabläufe und kooperierten mit weiteren Netzwerkakteur:innen. Das Modellprojekt erleichtert den Zugang zu einer Beratung und ist und in vielen Punkten niedrigschwellig. Die nachgefragten Themen betrafen hauptsächlich Kinderbetreuung und Erziehung, weniger das Thema Ernährung. Etwa 80 Prozent haben eine Unterstützung angenommen. Der Abschlussbericht ist online verfügbar.

Die Kinder- und Jugendarztpraxis scheint der richtige Ort für die Überleitung problembelasteter Familien in Unterstützungsangebote darzustellen. Wünschenswert wäre daher eine Einbringung dieses Modellprojektes in die Regelversorgung und eine Berücksichtigung in den Sozialgesetzbüchern.

peb-Projekt „Gemeinsam gesund: Vorsorge plus für Mutter und Kind“ (GeMuKi)

Laura Lorenz stellte das Projekt „Gemeinsam gesund: Vorsorge plus für Mutter und Kind“ (GeMuKi), das die fachübergreifende Gesundheitsberatung für Schwangere und junge Eltern stärken soll, vor. Ziel des vierjährigen Projekts ist die Förderung der Gesundheit in den ersten 1.000 Tagen eines Kindes. Im Rahmen der üblichen gesetzlichen Vorsorgeuntersuchungen bei Frauenärztinnen und -ärzten, Hebammen sowie Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzten sollen schwangere Frauen beziehungsweise junge Eltern:

  • über eine ausgewogene Ernährung,
  • angemessene Bewegung
  • und eine gesunde Lebensführung fächerübergreifend

beraten werden.  Es sei wichtig, insbesondere Ärztinnen und Ärzte im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen in ihrer präventiven Arbeit stärker zu unterstützen. Dies erfordere aber auch erhebliche Weiterqualifizierungsmaßnahmen für Ärztinnen und Ärzte. Es sei eine große Herausforderung, Leistungserbringer:innen zu rekrutieren, weil diese oft mit den Anforderungen der Regelversorgung stark belastet sind. Zurzeit läuft die Implementierung des Projektes, erste Ergebnisse sind 2022 zu erwarten. Praxen in Brennpunktregionen haben Patient:innen mit anderen Problemen, so dass es erfolgversprechend erscheint, dieses Projekt im Falle seiner Wirksamkeit mit dem Quartieransatz zu kombinieren. Mit Klick auf diesen Link erhalten Sie weitere Informationen zum Projekt. 

MiMi-Gesundheitsinitiative Deutschland

Ramazan Salman erläuterte die MiMi-Gesundheitsinitiative Deutschland. Es handelt sich hierbei um ein Projekt des Ethno-Medizinischen-Zentrums e. V. (EMZ), das von September 2017 bis Dezember 2019 mit regionalen Standortprojektträgern in zehn Bundesländern und dem Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie BIPS GmbH, Abteilung Prävention und Evaluation, durchgeführt wurde. Ziel des Projekts ist die Förderung von Gesundheitskompetenz, gesunden Lebensweisen und präventivem Handeln bei Migrant:innen.

Die MiMi-Gesundheitsinitiative identifiziert, schult, zertifiziert und aktiviert bereits gut integrierte Migrant:innen als interkulturelle Gesundheitsmediator:innen bzw. Lotsinnen und Lotsen. Nach ihrer Qualifizierung informieren die „MiMis“ ihre Landsleute über Gesundheit, Ernährung und das deutsche Gesundheitssystem, bei Bedarf in der jeweiligen Muttersprache. Es werden dazu auch mehrsprachige Wegweiser/Leitfäden für Versorgungsangebote bereitgestellt. So erreiche man die Betroffenen auf Augenhöhe und schaffe Vertrauen („mit Migrant:innen für Migrant:innen“).

Beim Thema Ernährung gehe es vornehmlich um den unkritischen Umgang mit süßen Produkten. Es sei nun wichtig, dieses erfolgreiche und bewährte Projekt:

  • zum bundesweiten Aufbau von Kapazitäten („Capacity Building“)
  • zur Selbsthilfe, von Gesundheitskompetenz („Health Literacy“) und
  • zur Stärkung („Empowerment“) sowie
  • zur Förderung der gesundheitlichen Teilhabe für Migrant:innen und Geflüchtete

zu nutzen. Dabei könne auch die Anbindung der Beratung in der Kinder- und Jugendarztpraxis hilfreich sein, ähnlich dem Konzept einer „Gemeindeschwester“. 

Grünau bewegt sich

Ulrike Igel stellte das Projekt „Grünau bewegt sich“ vor. Es handelt sich hierbei um ein auf fünf Jahre (2015 - 2019) angelegtes stadtteilbezogenes Praxis-Forschungsprojekt zur Kindergesundheitsförderung und Adipositasprävention. Ziel ist es, die Entwicklungschancen von Kindern in Leipzig-Grünau durch die gesundheitsbezogene Veränderung von Lebenswelten zu verbessern und die Wirksamkeit der durchgeführten Interventionen im Sinne einer evidenzbasierten Gesundheitsförderung wissenschaftlich zu überprüfen. Es wurde eine Sozialarbeiterin beschäftigt, die aufsuchend im Quartier die Bedarfe ermittelt hat. Der Fokus war auf die Lebenswelt der dort lebenden Menschen gerichtet. 


Im Ergebnis war die Beteiligung am Projekt sehr hoch. Es gab eine verbesserte Kommunikation mit den Kitas vor Ort, das Thema Gesundheitsförderung wurde als Schwerpunkt in die Stadtplanung aufgenommen und ein Projektladen wurde als festes Angebot für offene Kinder- und Jugendarbeit etabliert. Wesentliche Themen seien Anerkennung, Integration und soziale Prävention. Solche Projekte brauchen viel Zeit, auch um Vertrauen aufzubauen. Die nachfolgenden Maßnahmen müssen vor Ort partizipativ geplant und umgesetzt werden, um nachhaltig erfolgreich zu sein.

Kongress-Dokumentation

Zum Download: Die wichtigsten Expert:innen-Aussagen in einem PDF-Dokument

Kongress-Dokumentation (12 Seiten)