"Armut ist oft eine Folge verpasster Chancen, was das ganze Leben nachwirkt"

© Stefan Obermaier

Motivationsgespräch mit Georg Cremer: Im Interview mit pebonline erklärt der ehemalige Caritas-Generalsekretär, was es mit dem "Präventionsdilemma" in Deutschland auf sich hat. Cremer ist Professor für Volkswirtschaftslehre und sagt, dass wir es unserem gut ausgebauten Gesundheitssystem zu verdanken haben, die Covid-19-Pandemie im internationalen Vergleich gut zu bewältigen. Dennoch mahnt der Buchautor: "Wie wichtig der Zugang prekärer Milieus zu sozialen Diensten ist, zeigt sich gerade jetzt." Am 14.9. spricht Georg Cremer auf dem digitalen peb-Talk um 16 Uhr. Hier registrieren.

 

Ihr 2018 geschriebenes Buch trägt den Titel „Deutschland ist gerechter, als wir meinen“. Inwiefern gilt dies auch im Ausnahmezustand der Pandemie. Wie ist Ihre heutige Bestandsaufnahme?

In meinem Buch wende ich mich gegen die verbreitete, aber falsche Erzählung, der Sozialstaat in Deutschland sei in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich abgebaut worden. Die im internationalen Vergleich gute Bewältigung der Covid-19-Pandemie bei uns ist ganz wesentlich unserem Sozialstaat verdanken: einem gut ausgebauten Gesundheitssystem, den Regelungen zum Kündigungsschutz, der Absicherung im Falle der Arbeitslosigkeit und dem Kurzarbeitergeld. Wer dagegen wie viele Beschäftigte in den USA auf keinen Kündigungsschutz bauen kann, wer mit dem Verlust des Arbeitsplatzes auch seine Krankenversicherung einbüßt, wird trotz Anzeichen einer Erkrankung weiterarbeiten und damit das Virus weiterverbreiten.

Womit können wir Armut in Deutschland gezielt bekämpfen?

Da gibt es nicht nur eine Maßnahme. Wichtig sind zum einen materielle Hilfen wie die Grundsicherung für Arbeitsuchende und die Grundsicherung im Alter. Diese Hilfen werden häufig abgewertet, aber sie sind unverzichtbarer Teil der sozialen Sicherheit. Viele arme alte Menschen beantragen die Hilfen nicht, die ihnen zustehen. Hier sollte der Sozialstaat aktiver sein, damit alle zu ihrem Recht kommen. Armutsbekämpfung muss aber mehr sein als die Gewährung finanzieller Transfers. Der an sich gut ausgebaute Sozialstaat ist ungenügend darin, Notlagen vorzubeugen. Armut ist oft eine Folge verpasster Chancen bei Bildung und Ausbildung, was dann das ganze Leben nachwirkt.

Welche sozialpolitischen Maßnahmen halten Sie für hilfreich, um die Chancen von Kindern und Jugendlichen nachhaltig zu verbessern?

Die große Mehrheit der Kinder in Deutschland wächst zum Glück unter guten Bedingungen auf. Aber es gibt weiterhin einen engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg. Familien in prekären Lebenslagen brauchen neben materiellen Hilfen den niederschwelligen Zugang zu sozialen Diensten. Leider gibt es ein Präventionsdilemma; viele Programme erreichen diejenigen nicht, die am dringendsten auf sie angewiesen wären. Wie wichtig der Zugang prekären Milieus zu sozialen Diensten ist, zeigt sich gerade jetzt in der Pandemie. Große Sorge macht mir, dass ein weiterer Lockdown drohen könnte. Er wäre eine Katastrophe für viele arme Kinder. Sie fallen zurück, während es bürgerlichen Eltern bei aller Überlastung gelingt, ihre Kinder zu fördern, auch wenn Kitas und Schulen geschlossen sind. Er es ist lebensnotwendig, dass der Kontakt von Schulsozialarbeiterinnen und ehrenamtlichen Paten zu Familien in belastenden Lebensverhältnissen aufrechterhalten wird.

Zur Person:

Prof. Dr. Georg Cremer (geb. 27.3.1952 in Aachen, verh., 3 Söhne), war von 2000 bis Juni 2017 Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes e. V. Der habilitierte Volkswirt und Diplom-Pädagoge (Universität und Pädagogische Hochschule Freiburg) publiziert unter anderem zu den Themen der Sozialpolitik, des Arbeitsmarkts und der sozialen Dienste. Vor seiner Tätigkeit bei der Caritas war Prof. Cremer drei Jahre lang in der Entwicklungszusammenarbeit in Indonesien tätig. Er lehrt seit 1999 als außerplanmäßiger Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Freiburg. Ein 2018 von ihm geschriebenes Buch trägt den Titel: „Deutschland ist gerechter, als wir meinen. Eine Bestandsaufnahme.“